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Nachteilsausgleich: Einen Rollstuhlfahrer würden Sie auch nicht auf die Sprossenwand schicken

Nachteilsausgleich: Einen Rollstuhlfahrer würden Sie auch nicht auf die Sprossenwand schicken

Anton* ist 12 Jahre alt. Er sieht aus wie alle anderen Kinder, er verhält sich wie alle anderen – meistens.
Nur manchmal kann er einfach nicht mehr.
Anton ist Autist.
Aber Nachsicht oder Nachteilsausgleich gibt es deswegen noch lange nicht …


Zwischenruf in eigener Sache:

Liebe Leute!
Willkommen am Familienblog "Muttis Nähkästchen"

Birgit und Christine von Muttis Nähkästchen

Für alle, die uns noch nicht kennen: Hier plaudern Birgit und Christine aus dem Nähkästchen und schreiben über das (Über-)Leben mit Kindern.

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Anton hat das Asperger-Syndrom. Das ist eine international anerkannte Diagnose aus dem autistischen Spektrum, die mit 50%-iger Behinderung bewertet wird.

Die Behinderung sieht man nicht – dementsprechend ungnädig sind die gesellschaftlichen Reaktionen. Auch im Gymnasium hat er zunehmend das Nachsehen. Denn einen Nachteilsausgleich gibt es – bei uns – nicht.

Anton ist mein Kind.
Mir kommen die Tränen – ich sehe mein Kind scheitern.
Es scheitert an den Grenzen seiner Behinderung.

Es scheitert in Asperger-typischen Situationen:

  • Fehlende Selbstorganisation: Er hat das Heft nicht dabei (obwohl meist sehrwohl in der Schultasche vorhanden), verliert Hefte bzw. zeigt die Hausaufgabe nicht vor (obwohl oft gemacht)
  • Keine/mangelnde Mitarbeit: wenig oder gar keine mündliche Mitarbeit, schreibt nicht mit, arbeitet im Buch nicht mit, nur „physische Anwesenheit“.
  • Verweigerung einzelner Themenbereiche
  • Antwortet nicht auf direkte Aufforderungen
  • Verminderte Arbeitsgeschwindigkeit
  • Motivation im Keller: „Ich bin so schlecht!“

Jeder Autismus-Experte, dem wir diese Liste vortragen, nickt verständnisvoll: Das sind alles ganz typische Herausforderungen, bedingt durch den Autismus. Er steckt bei Überforderung lieber den Kopf in den Sand, ehe er sich mit anderen auseinandersetzt – auch wenn dies eindeutig zu seinem Nachteil ist.

Nachteilsausgleich – Fehlanzeige.

Manchmal kommt es mir vor, als würden wir in einem Entwicklungsland leben.
(Tun wir aber nicht.)
Aber es ist Fakt: Nur wenige Kilometer entfernt – im Nachbarland – gibt es einen unumstrittenen Nachteilsausgleich für autistische Schülerinnen und Schüler. Bei uns nicht.
Ja, sogar in diesem unseren Land – aber halt eben blöderweise nicht in unserem Bundesland – gibt es diesen Nachteilsausgleich. (Wer jetzt neugierig ist, in welchem hinterwäldlerischen Land wir leben, darf gerne einen Blick ins Impressum werfen … es ist übrigens das Bundesland mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen.)

Also pilgern wir von Lehrer zu Lehrer, werben um Verständnis.
Was hören wir?

Ich muss Anton genau so bewerten wie alle anderen Schülerinnen und Schüler. Alles andere wäre unfair den anderen gegenüber.

Klingt logisch.
Und fair.
Nur hat diese Argumentation leider einen gravierenden Schönheitsfehler: Die anderen Schülerinnen und Schüler haben keinen Behindertenausweis.

Barrierefreiheit für Behinderte?

Also zeigen wir den Behindertenausweis.
(Etwas, das ich eigentlich nie machen wollte!)

Denn eine Aussage einer ebenfalls betroffenen Mutter hat mich aufgerüttelt:

Einen Rollstuhlfahrer würden sie schließlich auch nicht auf die Sprossenwand schicken!

Denn was für einen Rollstuhlfahrer die Treppen, sind für Autisten die zwischenmenschlichen Situationen.
Und zwischenmenschliche Situationen gibt es im Laufe so eines Schultages Ende nie. Eigentlich müssten alle in Bewunderung erstarren, dass er es überhaupt halbwegs schafft!
(Siehe dazu den Gastbeitrag einer Autismus-Expertin: Autismus: Die Ungewissheit in mir)

Alleine auf weiter Flur

Ich versuche mir Hilfe zu holen. Was dürfen wir verlangen? Was ist gängige Praxis? Welche Rechte haben wir?
Gibt es Empfehlungen von offizieller Stelle? Gibt es gelebte Praxis mit anderen autistischen Kindern? Kommt ein Nachteilsausgleich? Können wir mit der UN-Behindertenrechtskonvention argumentieren?

Die lapidare Antwort der zuständigen Behörde hat mich fast aus den Socken gekippt:

Ich kann Ihre Fragen nicht beantworten.

Ja? Das ist alles?

Wir sind also komplett auf uns alleine gestellt.

Und schon wieder muss ich heulen – denn: Andere Länder, andere Sitten. Beispiel Deutschland:

Die Schulen sind verpflichtet, die spezifische Wahrnehmungsverarbeitung von Menschen im Autismus-Spektrum zu berücksichtigen. Zum Ausgleich der dadurch bedingten Nachteile (im Sinne des Grundgesetzes Artikel 3, Absatz 3, Satz 2) steht der Nachteilsausgleich zur Strukturierung schulischer Handlungsfelder sowie zur Leistungsfeststellung und Leistungsbewertung zur Verfügung.

Und weiter:

Definition des Nachteilsausgleichs:

  • Der Nachteilsausgleich dient der Kompensation der durch die Behinderung entstandenen Nachteile.
  • Er beinhaltet keine Bevorzugung des jeweiligen Schülers.
  • Differenzierte organisatorische und methodische Angebote dienen dazu, die Behinderung angemessen zu berücksichtigen.
  • Die fachlichen Anforderungen dürfen nicht geringer bemessen werden und müssen sich am jeweiligen Bildungsgang orientieren. Die Gewährung des Nachteilsausgleichs ist nicht gekoppelt an einen festgeschriebenen sonderpädagogischen Förderbedarf; eine Autismus-Spektrum-Störung Diagnose ist ausreichend.

Verfahren: Nachteilausgleiche, insbesondere bei Leistungsfeststellungen, erfolgen in der Regel auf schriftlichen Antrag des Schülers bzw. seiner Erziehungsberechtigten. Auf Verlangen ist ein ärztliches Attest oder ein pädagogisches Gutachten beizufügen, das Umfang und Art der Behinderung und die Auswirkungen auf das schulische Leistungsvermögen beschreibt. Aber auch ohne Antrag muss die Schule einer nachgewiesenen Behinderung Rechnung tragen.

  • Über Art und Umfang eines zu gewährenden Nachteilsausgleiches entscheidet die Schulleitung in Absprache mit den unterrichtenden Lehrkräften.
  • Ein Vermerk über den gewährten Nachteilsausgleich darf nicht in Arbeiten und Zeugnissen erscheinen.
  • Art und Umfang der Nachteilsausgleiche werden in den jeweiligen Sonderpädagogischen Förderplan bzw. Lernplan eingetragen.
    (Quelle: Leitlinien zur inklusiven Beschulung von Schülern mit Autismus-Spektrum-Störungen)

Und da findet man auch jede Menge hilfreiche Information:

Tja …

Wir hingegen sind auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen der Schule ausgeliefert.

Ich glaub, ich bin im falschen Film.
Kann mich bitte jemand wecken?

Wir haben um ein Gespräch mit dem Direktor gebeten.
Als ersten Schritt hab ich mir mal dieses Buch bestellt: Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störung: Neue Wege durch die Schule
Für Tipps und Erfahrungen von anderen Betroffenen wäre ich EXTREM dankbar!

Nachtrag: Und schon wieder muss ich heulen …

… aber diesmal vor Freude und Dankbarkeit. Die Schule hat sich nämlich RASCH und komplett unbürokratisch zurückgemeldet: Sie gewährt trotz fehlender gesetzlicher Grundlage unserem Sohn einen Nachteilsausgleich.
VIELEN DANK!


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*Name von der Redaktion geändert


 


Mehr zum Thema Autismus und Asperger

Wir sind Betroffene.
Vielleicht können andere Betroffene von unseren Erfahrungen profitieren:


Ein paar Hilfsmittel und Lösungsstrategien, die wir uns mit der Zeit zusammengesucht und ausprobiert haben:





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Birgit

Hier plaudert Birgit, alias Mutti, 40+, seit 2009 aus dem Nähkästchen: Authentizitäts-Freak, selbstbewusst grauhaarig, kreativ angehaucht, völlig unperfekte Mutter. Familienblog aus dem Leben mit zwei Jungs - Mutter allein unter Männern. Mehr über Muttis Nähkästchen: About. Nix verpassen? Folgt mir via Social Media oder Newsletter.

Dieser Beitrag hat 6 Kommentare

  1. Liebe Birgit,
    mit Österreich kenne ich mich tatsächlich gar nicht gut aus – hier in Ba-Wü hättet Ihr auf jeden Fall Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Ich beschäftige mich auf dem Blog oft mit dem Thema Inklusion und bin auch in einigen entsprechenden Facebook-Gruppen. Ich habe zu dem Thema auch eine eigene Blogreihe „Inklusionsberichte“ – vielleicht möchtest Du ja einen Gastartikel schreiben (oder diesen Artikel bei mir veröffentlichen) – wer weiß, vielleicht entstehen neue Kontakte? Viel Kraft für Euch, ich kämpfe aktuell auch mit den Mühlen der Ämter bezüglich der Inklusion des Löwenjungen!

    1. Das alles hier ist jetzt schon drei Jahre alt und wahrscheinlich liest es sowieso keiner mehr… Dennoch, ich komme vom Bodensee, also auch Ba-Wü. Mein Nachteilsausgleich in der Schule hieß: Ich darf mal kurz fünf Minuten vor die Türe gehen und durfte zur großen Pause im Klassenzimmer bleiben, wenn alle anderen das Gebäude verlassen mussten. Das ganze (also die Kenntnis meiner Lehrer über meinen Autismus) hatte für mich die Folge, dass ich trotz guter Leistungen statt aufs Gymnasium, auf die Hauptschule musste, weil: „Das Kind *könnte* ja irgendwann überfordert sein“. Mein Nachteil im heutigen Berufsleben heißt, Zitat DRV: „Nur weil Ihnen das zusteht, heißt das noch lange nicht, dass wir Ihnen das auch genehmigen“. Der Leistungskatalog der deutschen GKV kennt für Autisten quasi keine Therapien. Hieß für mich: Herkömmliche Psychotherapien und auch Psychiater, von denen der ein oder andere meine Diagnosen aberkannte, weil: „Blickkontakt können Sie offenbar und die typischen Schaukelbewegungen machen Sie ja auch nicht“… Aktuell muss ich sie von „höchster Stelle“ (Uniklinik) wiederherstellen lassen, da von einem Gutachter aberkannt. Also wenn Dich das näher interessiert, schreibe ich Dir gerne ein paar Zeilen.

      1. Lieber Tim!
        Vielen lieben Dank für deinen Erfahrungsbericht! Dabei hören wir immer nur „Jubelmeldungen“ in Sachen Nachteilsausgleich aus eurer Gegend! Sehr gerne würde ich dir eine Plattform für Details über deine Schulzeit und darüber hinaus bieten, wenn du magst. Schick mir einfach deine Eindrücke und Erfahrungen!
        lg Birgit

  2. Ooooh, je! Wir wohnen in Berlin und schon da ists manchmal echt schwer, aber es steht völlig außer Frage, dass unser großer Sohn einen Anspruch auf Ausgleich hat, dass bestimmte Dinge von ihm einfach nicht verlangt werden können (ein Beispiel sind Interpretationen schreiben)… Außerdem bin ich sehr froh, dass er einen Platz in einer Montessori-Schule bekommen hat. Dort gehört die Währung und Förderung der Individualität ja zum Basiskonzept…
    Dennoch, auch hier eckt man oft an. Im Bus muss ich oft (und ich hasse es!) den Behindertenausweis fremden Menschen vorzeigen, damit sie meinen Kindern (6J, 5J und 3J vielleicht doch mal einen Sitzplatz zubilligen. Ich musste mir schon anhören, dass ich meinem großen Sohn dann doch einfach mal ein Schild mit „Ich bin behindert“ an die Stirn nageln soll… Ich hätte dieser „freundlichen“ Dame am liebsten eine Ohrfeige verpasst und war gleichzeitig dermaßen den Tränen nahe…

    Ich wünsche Dir und Deinem tollen Wunder viel Kraft und Durchhaltevermögen! Und ich freue mich über jeden neuen Artikel von Dir! 👍

    Liebe Grüße
    Antje

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